Multiethnolektales Zürichdeutsch: Dialekttransformation und soziolinguistische Wahrnehmung

Stephan Schmid, Marie-Anne Morand & Sandra Schwab | Universität Zürich

Die Migrationslinguistik [1] beschäftigt sich mit einer Vielfalt von Sprachkontakt­phänomenen – darunter die Bewahrung der Herkunftssprachen [2], die zweisprachige Rede bei Migranten­kindern [3] oder der spontane Zweitsprachwerb bei Erwachsenen [4]. Seit der Jahrtausend­wende stehen aber unter dem Begriff ‘Multiethnolekt’ [5, 6, 7] vermehrt auch Sprechstile von Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Fokus der soziolinguistischen Forschung. Der vorliegende Beitrag untersucht multiethnolektales Zürichdeutsch aus der Perspektive einer ‘perzeptiven Varietätenlinguistik’ [8] und geht dabei der Frage nach, inwieweit die sozio­linguistische Wahrnehmung solcher Sprechweisen mit gewissen sprachlichen Merk­malen einhergeht, die im multiethnolektalen Zürichdeutsch beobachtet werden können.

Die Ergebnisse eines Einschätzungsexperiments weisen darauf hin, dass multi­ethno­lektales Sprechen nicht kategorial, sondern eher im Sinne eines Kontinuums wahr­genommen wird  (ein aus der soziophonetischen Migrationslinguistik bekannter Befund [9]). Das Wahr­nehmungs­kontinuum zwischen traditionellem und multi­ethno­lektalem Zürich­deutsch korreliert zudem mit der Ausprägung gewisser Variablen, die in der Sprach­pro­duktion der Jugendlichen auftreten.

Die hier untersuchten Merkmale sind haupt­sächlich phonetischer, zum Teil aber auch lexikalischer Natur. Auf der phonetischen Ebene zeichnet sich multiethnolektales Sprechen z.B. durch Fortis-Frikative im Wortanlaut auf (welche im traditionellen Zürichdeutsch aufgrund einer phono­taktischen Beschränkung aus­geschlossen wären) sowie durch eine geringere Variabilität von Vokaldauern. Im lexikalischen Bereich verwenden Jugendliche, deren Sprech­weise von Gleichaltrigen als eher multiethnolektal eingeschätzt wird, einzelne Wort­formen, die insbesondere aufgrund ihrer Lautgestalt eine Art Hybridisierung zwischen Zürichdeutsch und Standarddeutsch darstellen – auch dies eine Erscheinung, die bei traditionellen Sprech­weisen aufgrund der schweizer­deutschen Diglossie mit ihrer klaren Abgrenzung zwischen Dialekt und Standard­varietät kaum erwartbar wäre.

Anhand von soziophonetischen Variablen und lexikalischen Misch­formen lässt sich im multiethnolektalen Zürichdeutsch somit eine Art ‘Dialekttransformation’ [10] ausmachen, die einerseits auf eine heterogene Spracherwerbssituation zurückzuführen ist, andererseits aber auch als Ausdruck einer multikulturellen Identität interpretiert werden kann.

Literaturangaben

[1] Krefeld, T. (2004). Einführung in die Migrationslinguistik. Tübingen, Gunter Narr.

[2] Autor

[3] Auer, P. 1984. Bilingual conversation. Benjamins, Amsterdam.

[4] Purdue, C. (Ed.), Adult language acquisition: Cross-linguistic perspectives. Cambridge, Cambridge University Press.

[5] Clyne, M. (2000). Lingua franca and ethnolects in Europe and beyond. Sociolinguistica 14: 83-89.

[6] Auer, P. (2003). ‘Türkenslang’: Ein jugend­sprachlicher Ethnolekt des Deutschen und seine Transformationen. In: A. Häcki Buhofer (Ed.), Spracherwerb und Lebens­alter. Tübingen, Francke: 255-264.

[7] Freywald, U., Mayr, K., Özçelik, T. & Wiese, H. (2011). Kiezdeutsch as a multiethnolect. In: F. Kern & M. Selting (Eds.), Ethnic styles of speaking in European metropolitan areas. Amsterdam, John Benjamins: 45-73.

[8] Krefeld, T., & Pustka, E. (2010). Für eine perzeptive Varietätenlinguistik. In: T. Krefeld & E. Pustka (Eds.), Perzeptive Varietätenlinguistik. Bern, Peter Lang: 101-129.

[9] Pustka, E. (2007). Phonologie et varietés en contact. Ayeronnais et Guadeloupéens à Paris. Tübingen, Gunter Narr.

[10] Autor