Elia Ackermann | Universität Zürich
Wie auch in anderen Provinzen des Römischen Reiches etablierte sich südlich des Bodensees nach der römischen Eroberung (16-15 v. Chr.) das Vulgärlatein als Alltagssprache. Über die Jahrhunderte entwickelte sich aus dem lokalen Vulgärlatein das Alträtoromanische, dessen Nachfolger noch heute im ostschweizerischen Kanton Graubünden gesprochen wird. Nach dem Untergang des Weströmischen Reiches im 5. Jh. n. Chr. wanderten germanischsprachige Siedler über den Limes und liessen sich am Alpenrhein nieder. Was folgte, war ein Jahrtausend des Sprachkontakts, welches sich letztlich zugunsten des Deutschen entschied. Bis zum 15. Jh. n. Chr. wurde die rätoromanische Sprache stark zurückgedrängt und das Rheintal bis zur Höhe von Chur komplett verdeutscht. Ein Hauptzeuge für die ehemalige Romanität der verdeutschten Gebiete sind die Orts- und Flurnamen, die zudem eine wichtige Quelle für ältere Sprachstufen des Rätoromanischen darstellen.
Das Deutsche breitete sich sowohl von früh verdeutschten Sprachinseln (Administrationszentren, Klöster) aus, als auch in mehreren Schüben von Norden nach Süden und von Westen nach Osten. Das schlug sich nicht nur in den regionalen Dialektgrenzen des modernen Schweizerdeutschen nieder, sondern auch in der Toponymie: Die früher verdeutschten Gebiete zeigen prozentual einen deutlich geringeren Anteil an romanischen Toponymen in ihrem Namenschatz und haben diese auch stärker der deutschen Sprache angepasst. Das betrifft nicht allein die Aussprache, sondern auch die Morphologie und bspw. Volksetymologie. Dazu kommt, dass die deutschen Zuwanderer am Alpenrhein grösstenteils aus dem heutigen schwäbischen Raum stammen. Die modernen Dialekte des ehemaligen Unterrätiens unterscheiden sich also – auch bedingt durch das rätoromanische Substrat – hörbar von anderen schweizerdeutschen Mundarten, bspw. aus Zürich.
In der Präsentation soll ein kurzer Überblick geboten werden über die historischen Verhältnisse und die sprachdiachronen linguistischen Prozesse, die als Folge von Zuwanderung und Zweisprachigkeit im ehemaligen Unterrätien zu beobachten sind.
Literatur (Auswahl)
Camenisch, W. 1962. Beiträge zur alträtoromanischen Lautlehre auf Grund romanischer Orts- und Flurnamen im Sarganserland. Zürich: Juris.
Decurtins, A. 1987. Beiträge zur Raetia Romana. Voraussetzungen und Folgen der Eingliederung Rätiens ins Römische Reich. In: Vom Vulgärlatein zum Rätoromanischen. Chur: Terra Grischuna.
Eichenhofer, W. 1999. Historische Lautlehre des Bündnerromanischen. Tübingen: Francke.
Pult, C. et al. 1939-. Dicziunari Rumantsch Grischun. Chur: Societad Retorumantscha.
Sonderegger, S. 1979. Die Siedlungsverhältnisse Churrätiens im Lichte der Namenforschung. In: Werner, J. & E. Ewig (Hrsg.). Von der Spätantike zum frühen Mittelalter: Aktuelle Probleme in historischer und archäologischer Sicht. Sigmaringen: Thorbecke. S. 219-254.
Stricker, H. 1976. Eine Besonderheit der unterrätischen Namenlandschaft. Zur Agglutination deutscher Ortspräpositionen an romanische Flurnamen. In: Annalas da la Societad Retorumantscha. Bd. 89. S. 147-181.
Stricker, H. 2017. Werdenberger Namenbuch. 8 Bde. Zürich: Werdenberger Namenbuch.
Trüb, R. 1951. Die Sprachlandschaft Walensee-Seeztal. Frauenfeld: Huber & Co.